Under Ground
„Bitte zurückbleiben!“: Eine Vorschule unsentimentaler Menschlichkeit
Fahr mal wieder U-Bahn! Knie stößt sich an Knie, es drängelt, die Luft steht, jeder ringt um seinen Platz, man riecht Essen, Kaffee, Parfum. Und dann ist da noch das Erscheinen der Gesichter in der Menge. In den Untergrundbahnen der großen Städte kann man das Welttheater kennenlernen – immer gleiche Szenen, immer andere Geschichten. Mit nichts als Geduld und einer zweiäugigen Rolleiflex-Mittelformatkamera bewaffnet, hat die junge Fotografin Loredana Nemes Manschen in der Subway, der Métro, im Underground und der U-Bahn fotografiert. Sie wurde in Rumänien geboren, floh 1986 nach Deutschland, heute lebt sie in Berlin. Ihre Aufnahmen aus Berlin, Paris, New York, Moskau und Bukarest sind in einem Buch erschienen.
Man blättert in der bestechend schönen Auswahl wie in einer kleinen Vorschule unsentimentaler Menschenliebe. Nemes bietet den portraitierten Fahrgästen Raum, sich zu inszenieren, fordert sie aber nicht dazu auf. So zeigen sich die Großstadthelden, wie sie sind: zwei überaus hübsche Pariserinnen, die noch einmal die Koketten geben; Damen, die Haltung bewahren, Jungs, die überaus cool sein müssen; Liebespaare; Kinder und immer wieder Müde, Schlafende, Erschöpfte – in sich versunken. Jedes der Bilder scheint ein Schicksal zu erzählen. Aber die Fotografin bleibt auf Distanz, rückt den Personen nicht zu dicht auf die Pelle. Sie fängt das eigene Reich ein, dass noch im größten Gedränge um jeden ist, die persönlich Atmosphäre. Obwohl kein ausgefallenes Gesicht, keine unerwartete Geste zu sehen ist, wirkt jede Figur einmalig ausdrucksstark. Man erblickt die U-Bahn-Fahrer, glaubt, sie kennenzulernen, um sich dann auf Nimmerwiedersehen zu trennen.
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 9.7.2007